Texte rund um die Hebammenarbeit | Die Geburt
Karin Müller, Hebamme
Die Geburt beginnt
Frauen* müssen putzen, Schleim geht ab oder nicht, haben Durchfall, die Hebamme freut sich darüber. Wehen beginnen in der Nacht, morgens, am Nachmittag, am Abend. Es zieht, drückt, krampft, im Kreuz, im Unterbauch, in den Oberschenkeln, regelmäßig, unregelmäßig, eine Minute lang, ein paar Sekunden lang. Frauen* spüren wenig oder viel warme Flüssigkeit die Beine herunterrinnen, mit oder ohne Plopp davor, ein Schwall, ein Tröpfeln, ist es überhaupt Fruchtwasser? Frauen* legen sich in die Badewanne, versuchen weiterzuschlafen, legen die großen Kinder ins Bett, backen einen Kuchen. Frauen* sind aufgeregt, plötzlich hellwach, ungeduldig, panisch, voll Vorfreude, ganz gelassen. Männer* wollen viel zu früh die Hebamme anrufen, stoppen mit der Uhr mit, verschlafen die ersten Stunden, sind noch in einer Besprechung.
Eröffnungsphase
Der Muttermund öffnet sich bis auf 10cm. Muttermünder sind weich, straff, öffnen sich schnell, langsam, nie linear, jede Hochrechnung geht ins Leere, Geburt lässt sich nicht berechnen. Wehen werden regelmäßiger, länger, stärker. Frauen* gehen spazieren, kuscheln sich ins Bett, gehen duschen, richten noch Sachen zusammen, müssen bei jeder Wehe unterbrechen, beginnen mitzuatmen. Frauen* lassen sich noch gern ablenken, hören Musik. Frauen* wollen fest massiert werden, rühr mich nicht an!, ziehen sich aufs Klo zurück, wollen nur allein sein. Frauen* freuen sich über Schlucke von Wasser, die sie nicht selbst verlangen können, entspannen in der Badewanne, müssen raus aus dem Wasser, viel zu warm, der Kreislauf spielt nicht mit, das Fenster aufreißen, einen kalten Waschlappen auf die Stirn, verdammt, warum tut das so weh.
Es tröpfelt ständig aus der Scheide, Schleim, blutig. Ein Schwall Fruchtwasser, Blasensprung! Jetzt sind die Wehen noch kräftiger, wo bleibt die Pause? Frauen* sind ganz auf sich konzentriert, sehen bunte Farben, zeitlos, auf einem anderen Stern, schlafen in den Pausen einfach weg (jetzt fragt bitte keiner mehr nach der Sozialversicherungsnummer!). Frauen* brauchen eine Hand, die sie fest drücken können, eine Wand, an die sie sich stützen können, ein Seil, an das sie sich hängen können. Pause, Kräfte tanken, für die nächste Wehe, immer nur die nächste. Ganz auf die Atmung konzentrieren, um vom Schmerz abzulenken, zum Baby hinatmen. Frauen* tönen, ganz von allein, stöhnen, prusten, wiehern, das macht den Muttermund locker, fluchen, tiefe AAAs und schrille IIIs, nie sonst lässt es sich so kraftvoll schreien. Frauen* verzweifeln, ich kann bald nicht mehr, warum dauert das so lang, mir geht das alles zu schnell, du machst es gut! Hebammen hören nach den Herztönen, tasten nach dem Muttermund, sind einfach nur da, motivieren, schlagen vor.
Männer* massieren, werden weggestoßen, müssen rausgehen, fühlen sich völlig hilflos, haben Angst, was haben wir im Kurs gelernt? Männer* tönen mit, halten, schauen auf die Uhr, zählen Sekunden und Minuten, gleich ist die Wehe am Höhepunkt, gleich ist sie wieder vorbei!
Frauen* krümmen sich, sind zornig, schimpfen, sind entmutigt, das halt ich nicht mehr aus, wimmern. Wehen werden stärker, werden wieder kürzer und schwächer, warum, Frauen* wissen nicht mehr weiter, sind verzweifelt, zornig, wütend. Frauen* sitzen, liegen, sind im Vierfüßler, keine Position passt mehr. Anstrengend ist es schon, aber gut auszuhalten. Ich schaffe es!
Übergangsphase
Frauen* sind erschöpft, am Ende ihrer Kräfte. Frauen* erbrechen, verfluchen ihr Mittagessen, ihren Mann*, verlangen nach Schmerzmitteln, wollen einen Kaiserschnitt, kurz vor dem Gipfel dreht man nicht mehr um? Doch, ich schon, macht das ohne mich weiter, ich geh jetzt. Wehen werden unregelmäßig, Pausen werden länger oder kürzer.
Austreibungsphase
Der Muttermund ist offen, das Kind tritt tiefer. Frauen überkommt der Drang mitzuschieben, es geht gar nicht anders, es presst sie. Frauen* müssen aufs Klo, ist es Stuhl, ist es das Köpfchen, das da so hart auf den Darm drückt? Endlich aktiv mittun können! Frauen* knien, stehen, hocken, liegen. Die Hebamme sagt, greif` rein in die Scheide, du kannst das Köpfchen schon spüren. Unglauben, Energieschub, Schmerz. Warum spannt das so, brennend, schneidend, es zerreißt mich gleich. Frustration, in der Pause rutscht das Kopferl wieder zurück?! Zwei Schritte vor, einer zurück, ich kann die Haare schon sehen! Hingreifen motiviert, hinschauen auch, mit einem Spiegel. Männer* stützen ihre Frau*, schauen hin, schauen weg, wollen stark sein. Das Kopferl wird geboren, eine Wehe noch, dann ist das Kind da.
Das Kind ist da
Erst einmal durchschnaufen. Ein Maunzen hören, ein Schreien oder auch nicht. Unglauben, Überwältigung. Tränen, Wunder. Das Kind, blau, lila, rosa, zerknautscht, mit Käseschmiere oder ohne. In jedem Fall feucht und warm. Frauen* heben es hoch, greifen mal ganz vorsichtig hin, die Hebamme legt es ihnen auf den Bauch. Was ist es denn eigentlich? Ein Mensch. Der Fotoapparat kann ruhig noch warten. Die Nabelschnur pulsiert noch, hingreifen!, pulsiert nicht mehr. Noch einmal ein Ziehen, muss das jetzt noch sein, noch mal aufsetzen, mitschieben, keine Angst, die Plazenta ist ganz weich. Die Hebamme, die Frau*, der Mann* durchtrennen die Nabelschnur, davor, danach, das geht aber schwer. Frauen zittern am ganzen Körper, es schüttelt sie richtig durch, erschöpft, was brennt da noch so am Beckenboden?, wund, offen. Und gleichzeitig: Euphorie, Glück, Stolz!, unendlich kraftvoll. Wunder.