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Texte rund um die Hebammenarbeit | Latenzphase: Die geschenkte Zeit

Josy Kühberger, MSc, Hebamme

Was genau ist damit gemeint?

Latenzphase meint die Zeit bis zu einer Muttermundseröffnung von 4-6 Zentimetern. Die WHO beschreibt sie als Zeitspanne, die durch das Auftreten von schmerzhaften Kontraktionen charakterisiert wird und mit der Verkürzung der Portio und einer Eröffnung bis zu einer Muttermundsweite von fünf Zentimetern einhergeht. „Latent“ bedeutet laut Duden „vorhanden, aber (noch) nicht in Erscheinung tretend; nicht unmittelbar sichtbar oder zu erfassen“.

Hände im SchossWas sind das also für unsichtbare Vorgänge, die da geschehen?

Während der Latenzphase reift das Gewebe der Zervix, bis es weich und nachgiebig genug ist, damit der Kopf ausreichend Druck gegen den Rand des Muttermundes ausüben kann, damit mütterliches Oxytocin ausgeschüttet wird. Ob dies geschieht, hängt davon ab, ob die Gebärende sich sicher fühlt und sich für die Herausforderung Geburt öffnen kann. Die entscheidenden Faktoren sind also sowohl der körperliche und der psychische Reifegrad von Mutter*/Kind, als auch das Maß an Sicherheit, das die begleitenden Personen der Gebärenden vermitteln können.

Die Sicht der Geburtsmedizin

Nüchtern betrachtet sind die Empfehlungen zum Umgang mit der Latenzphase sehr eindeutig: diese Zeit sollte nicht in einem Krankenhaus-Setting verbracht werden. Die Betreuung von gesunden Schwangeren mit bisher unauffälligem Verlauf erfordert zu diesem Zeitpunkt keine geburtsmedizinischen Maßnahmen durch Fachpersonal. Weder sind routinemäßige Herzton-Kontrollen notwendig, noch vaginale Untersuchungen. Die Dauer der Latenzphase ist im Gegensatz zu anderen Geburtsphasen keiner zeitlichen Begrenzung unterworfen. Zudem gibt es einen deutlichen Zusammenhang zwischen einer frühen Aufnahme im Krankenhaus und der Häufigkeit von Interventionen, Komplikationen und Kaiserschnitten. In der Latenzphase geschieht die Weichenstellung für eine physiologische Geburt. Je später die Aufnahme, desto besser. Die Botschaft, die den Schwangeren mitgegeben wird, ist also sehr klar: „Bleiben Sie am besten so lange es geht zu Hause.“ Das bringt manche Gebärende allerdings in ein Dilemma.

Die Sicht der Frauen*

Die ersten Wehen sind evolutionsbiologisch das Signal, uns an den Ort zu begeben, an dem wir gebären wollen und die Menschen um uns zu versammeln, die uns dabei helfen sollen. Die allermeisten Frauen* planen eine Geburt im Krankenhaus. Das ist der Ort, an dem sie sich geschützt fühlen, da unser kulturelles Konzept von sicherer Geburt das Vorhandensein von Medizintechnik vorsieht. Dort sind auch die Personen, die anhand dieser Geräte erkennen sollen, ob alles seinen guten Gang geht. Aus geburtsphysiologischer Sicht macht der Impuls, ins Krankenhaus zu fahren, also Sinn. Der Neocortex ist noch aktiv und erlaubt uns, all die praktischen Dinge zu tun, die mit einem Ortswechsel einhergehen: zu denken, zu reden, zu handeln. Die damit einhergehende Unruhe reduziert die Wehentätigkeit. Einmal am „richtigen Ort“ angekommen, sinkt idealerweise das Adrenalin und die Wehen nehmen wieder Fahrt auf. Ein weiterer Grund zum Aufbruch ins Krankenhaus ist die Schwierigkeit zu erkennen, wann die „aktive Eröffnungsperiode“ beginnt bzw. die Sorge der Frauen*, den richtigen Zeitpunkt zu verpassen. Physiologischerweise ist der Weg hin zum Kind für sie ein Ein- und Abtauchen in ein flüssiges, zeitloses Kontinuum. In diesem Prozess wieder nach Hause geschickt zu werden, kann das Gefühl erzeugen, nicht unterstützt oder ernst genommen zu werden.

Hebammen als Gatekeeper

Wenn die Gebärende voller Vorfreude, Aufregung oder auch Unsicherheit ins Krankenhaus kommt, gibt es aus geburtshilflicher/handwerklicher Sicht noch nicht viel zu tun. Wenn alles in Ordnung ist, soll die Frau* ermutigt werden, nochmal heimzugehen, wenn sie das möchte. Hebammen kommt in diesem Moment eine wichtige Lotsinnen-Funktion zu. Die Frauen* müssen darin bestätigt werden, dass ihr Gefühl stimmt: „Ja, der Prozess hin zur Geburt hat begonnen.“ Sie sollen sich ernst genommen fühlen und spüren, dass sie jederzeit in der Klinik willkommen sind und unterstützt werden. Gleichzeitig ist es auch unsere Aufgabe, sie in dieser Zeit des Wartens möglichst gut und unbeschadet durch unser auf Handeln ausgerichtetes Geburtshilfe-System zu leiten – eine Gratwanderung also. Um die Entscheidung zu treffen, ob sie bleiben oder heimgehen, brauchen die Frauen* neben Beruhigung und Bestätigung daher auch Erklärungen und Handlungsempfehlungen.

Linearität versus Flow

Wir vermitteln ihnen, dass diese „time of in-between“ mehrere Stunden – oder auch mehrere Tage dauern darf. Dass es die wichtigste Zeit der Geburt ist, weil hier die Weichenstellung geschieht, in der der Muttermund oft ohne eine messbare Veränderung reift. Dass Kontraktionen auftreten können, die zwar schon unangenehm sein können, aber in Dauer und Intensität meist noch unregelmäßig sind und auch wieder aufhören dürfen. Dass körperliche Anzeichen wie blutiger Schleimabgang und Durchfall dazu gehören können und bedeuten, dass sie auf dem richtigen Weg sind. Dass diese Zeit so lange dauern darf, wie es ihnen und ihrem Baby damit gut geht. Sie brauchen aber auch Wissen darüber, warum es gut sein kann, diese Zeit daheim zu verbringen. Es ist eine Zeit des Rückzugs, des Einlassens, des Geschehenlassens. Oxytocin reagiert empfindlich auf Reize unserer Großhirnrinde, auf fremde Umgebung und laute Geräusche. Es entfaltet seine Magie, wenn wir uns innerlich sicher und äußerlich geschützt fühlen, umgeben von vertrauten Menschen, bei Berührung, bei gedämpftem Licht – Oxytocin wird gefüttert von „love and laughter“. Eine Atmosphäre, die meist zu Hause leichter zu kreieren ist. So wie sie Informationen für ihre linke Gehirnhälfte benötigen, brauchen sie Bilder für die rechte Gehirnhälfte. Die Latenzphase ist... wie eine Wasserschale, die sich Tropfen für Tropfen füllt, und irgendwann ist es soweit und sie quillt über. Es ist wie bei einer Ballerina, die sich aufwärmt für ihren Tanz oder ein Orchester, das sich einspielt. Wenn Geburt wie eine Bergbesteigung ist, dann ist die Latenzphase in diesem Sinnbild die Anfahrt zum Berg. Sie kann kurz sein oder lang, man kann dabei immer wieder ausruhen und sich auf den Gipfel freuen.

In den Flow kommen

Klare Handlungsempfehlungen sind hilfreich. Schlafen und rasten so lange es geht, mit einer Wärmeflasche am Kreuzbein und einer über dem Schambein, denn Wärme unterstützt den Reifungsprozess. Essen, trinken, regelmäßig aufs WC gehen. Die Uhr weglegen. Sich ablenken. Einfache Dinge tun. „Brain work can block the body work.“ Alle rhythmischen Tätigkeiten unserer Hände schütten Oxytocin aus: die Babydecke fertig häkeln, Brot backen, bügeln... Viele Erstgebärende, die so lange wie möglich daheim bleiben wollen, profitieren von realitätsnahen Angaben zur Geburtsdynamik. Die Information, bei 5-Minuten-Abständen loszufahren, führt fast immer dazu, dass sie entgegen ihrer Absicht viel zu früh im Krankenhaus ankommen.
Hilfreicher ist meistens der „3:10 Leitsatz“ = drei kräftige Wehen, die ungefähr eine Minute dauern, in zehn Minuten für mehr als eine Stunde. Auch Wehen-Tracker am Smartphone raten oft viel zu früh zum Aufbruch. Brauchbar sind die Apps meiner Meinung nach nur so: Solange man dran denkt, Wehen-Beginn und Wehen-Ende im Handy einzutragen, ist man noch in der Aufwärmphase. Wenn man anfängt, das Tippen zu vergessen, ist man in der aktiven Geburtsarbeit angekommen.

Frauen* können Kinder gebären. Das ist unsere Super-Power. Damit es gut gelingen kann, müssen wir unsere evolutionären Wurzeln bedenken und was wir brauchen, damit sich diese Kraft entfalten kann.

Die ungekürzte Fassung dieses Artikels ist ursprünglich erschienen in: Österreichische Hebammenzeitung 03/2020, S. 20-23.
Wir danken für die Abdruckgenehmigung!

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